Weil die Berliner Rinnen stanken!

Die Entwicklung der Abwasserentsorgung und wie der Bau der Kanalisation Berlin veränderte
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Welche Bedeutung hat die Berliner Kanalisation für ihre Stadt? Wie wurde Berlin also durch den Bau der Berliner Kanalisation verändert? Gebaut ab 1873, vor dem Hintergrund der großen Trends der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - der Industrialisierung und der sozialen Frage - gibt es naheliegende Antworten: Man würde erwarten, Berlin wäre gesünder geworden, die soziale Spannung hätte sich verringert, ganz allgemein wäre Berlin besser geworden. fn:{Zumindest wäre dies die naive, technikdeterministische Sicht} Aus diesem Blickwinkel, dem der Erwartungen, die sowohl Zeitgenossen als auch wir heute an die Wirkung der Kanalisation stellen, wollen wir die oben angerissene Frage beantworten: Wie hat sich Berlin durch die Kanalisation verändert?
Zu diesem Zweck streifen wir zuerst die Straßen und überfüllten Rinnsteine des Berlins Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Wir umreißen, wie es dazu kam, dass die Kanalisation gebaut wurde. Schließlich nehmen wir verschiedene Erwartungsfelder unter die Lupe. Aus diesen leiten wir eine vorsichtige Konklusion her, betonen aber, dass zu diesem Thema noch viel detaillierte, quellenbasierte Arbeit fehlt.

Die Berliner Rinnen

Berlin, bis Ende des 17. Jahrhunderts eine kleine Provinzstadt, wuchs mit dem aufstrebenden preußischen Königreich und dann als Hauptstadt des Deutschen Reichs beträchtlich. Zählte Berlin in den 1830ern noch eine Viertelmillion Einwohner, so waren es in 1850ern schon fast eine halbe Million, und 1877 wurde die Millionenmarke überschritten. fnv:{c::BerlStat1999;; S. 25ff} Dies führte zu immer dichteren Wohngegenden, und natürlich auch zu einer immer größeren Menge an Fäkalien. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 22f} Gelöst wurde dieses Problem auf verschiedene Weisen: Wer konnte, entleerte seine Nachttöpfe in einen Fluss, oft in die Spree - auch wenn dies oft verboten war. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 29f} Ebenfalls verbreitet waren Senkgruben, die allerdings regelmäßig geleert werden mussten. Das Leeren war oft eine enorme Belastung für die Anwohner und obendrein nicht billig. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 23, 29f} Manchmal wurden auch einfach leere Grundstücke zu diesem Zwecke herangezogen. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 24f} Hauptsächlich aber waren die berühmten Rinnsteine das System der Wahl zur Abwasserentsorgung. Diese maßen etwa 0,5 m Tiefe und zwischen 0,5 und 1 m Breite und verliefen entlang beiden Seiten einer Straße. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 23} Diese hatten nur ein geringes Gefälle fnv:{c::Bondzio2005;; S. 2} und waren deshalb oft überfüllt, vor allem auch, da oft unerlaubterweise Nachttöpfe und häusliche Abfälle in die Rinnen eingeleitet wurden. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 24, c::Bondzio2005;; S. 2f} Dementsprechend versickerte das Abwasser oft ins Grundwasser oder überflutete bisweilen auch Straßen. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 31}

Die Kanalisation

Trotz dieser Umstände sah es die Stadtverwaltung lange nicht als ihre Aufgabe, sich um die Reinigung der Stadt zu kümmern. Nur langsam übernahm sie 1847 erste Stadtreinigungsaufgaben, fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 25} und erst nach zwei gescheiterten Entwürfen für eine Kanalisation in den Jahren 1842 und 1860 bewilligte die Stadtverwaltung den Hobrecht-Plan. fnv:{c::Bondzio2005;; S. 3ff} Dieser bestand aus 12 Radialsystemen, die größtenteils voneinander unabhängig waren. Jedes Radialsystem sammelte das Wasser mittels des natürlichen Gefälles an einem zentralen Punkt, von welchem das Abwasser dann in sogenannte Rieselfelder - landwirtschaftlich genutzte Felder zur Reinigung des Abwassers - geleitet wurde. fnv:{c::Bondzio2005;; S. 7f} Schnell waren viele Berliner Grundstücke angeschlossen - 1881 zehntausend, 1920 zweiunddreißigtausend. fnv:{c::Krz2004;;}

Erwartungen & Auswirkungen

Prestige & Ästhetik

Welche Auswirkungen die Kanalisation hatte, ist nicht leicht zu beantworten, wie wir im Folgenden sehen werden. Eine Auswirkung aber ist offensichtlich, dennoch wichtig zu erwähnen: Die Straßen des mit einer Kanalisation ausgestattetem Berlin überfluteten nicht mit Fäkalien. Gewissermaßen scheint genau das auch die hauptsächliche Erwartung der handelnden Akteure gewesen zu sein: Vor der Kanalisation wurde das Berliner Wasserwerk mit dem expliziten Ziel gebaut, die Rinnsteine zu spülen, fnv:{c::Mohajeri2005;; 25, c::Bondzio2005;; S. 3} als das Abwasser in den Rinnsteinen infolge der zunehmenden Zahl an - mit Wasser aus dem Wasserwerk gefütterten - Wasserklosetts zu- und nicht abnahm, war die Stadtverwaltung gewissermaßen gezwungen zu handeln, wenn sie die Stadt nicht mit Fäkalien überflutet sehen wollte. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 66, 73} Es scheint also dieses basale Bedürfnis zu sein, welches den Kanalisationsbau maßgeblich motivierte. Ebenfalls gibt es nach dem Kanalbau weniger Beschwerden als vor dem Kanalbau. Wie verdammend diese ausfallen konnten, verdeutlicht dieses Beispiel:

"In die Rinnsteine leert man die Nachtstühle und
allen Unrath der Küche und wirft krepierte Haustiere hinein [...]
 Wenig sieht man darauf, todte Hunde und Katzen zu entfernen und ich habe oft einen halben Tag todte Pferde in
 sehr lebhaften Straße liegen sehen.
 Es gibt auch einige Oerter, die man zum öffentlichen Abtritt gemacht hat, und wehe dem Fußgänger, der im Finstern sich hierher verirrt." fn:{c::Mohajeri2005;; S. 24f}

Es ist gut vorstellbar, dass die Stadtverwaltung unter anderem auch mit der Motivation handelte, solche Kritik an Berlin verstummen zu lassen. Allerdings gibt es wenig an direkten Belegen für diese Erwartung. Am nächsten kommt der Brief des Königs an Prinzessin, den er an "Prinzessin Luise, wohnhaft am stinkerigen Graben" adressierte. fn:{Zitiert nach c::Arnold2007;; S. 20} Ebenfalls wäre es naheliegend, dass internationale Konkurrenz für die Entscheidungsfindung relevant war - London begann seine Kanalisation schon 1830 -, fnv:{c::Bondzio2005;; S. 3} aber hierfür gibt es ebenfalls keine direkten Anhaltspunkte. Es folgte auf die Kanalisation ein gewisser Bauboom von Mietskasernen, wobei es unklar ist, wie viel Verantwortung die Kanalisation trug. fnv:{c::Tepasse2001;; S. 88}

Gesundheit

Vielleicht der wichtigste Grund, warum die Kanalisation heute Wertgeschätzt wird, ist, dass sie uns vor vielen übertragbaren Krankheiten schützt. Man würde also erwarten, dass dieser Faktor auch in den Erwartungen der Zeit vorherrschte. Hier ist aber wichtig, den Wissensstand der Zeit zu berücksichtigen. Es ergibt sich ein differenziertes Bild: Die Keimtheorie der Infektion wurde erst im Laufe der 1870er populär. Die vorherrschende Theorie der Zeit war die Miasmentheorie, die besagte, dass schlechte Luft Krankheiten wie z. B. Cholera übertrage. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 31} Nach dieser verursachte Abwasser durch Versickern, Vermehrung im Boden und schließlich Verdunsten Miasmen, die schließlich zur Krankheit führten, populär wurde diese allerdings auch erst um 1860 mit Pettenkofer. fnv:{c::Mohajeri2005;; 31ff., 44} Abwasser als direkter Infektionsweg wurde trotz der Erkenntnisse John Snows 1854 in London nicht in Betracht gezogen. fn:{John Snow führte einen Cholera-Ausbruch 1854 auf eine infizierte Pumpe, der 'Broad Street Pump' zurück} Auf Basis von statistischen Korrelationen zwischen der Einführung der Kanalisation und dem Rückgang an Fiebertoten in Croydon in England sagte Rudolf Virchow allerdings ebenfalls trotz Unkenntnis des genauen Infektionsmechanismus vorher, dass eine Kanalisation die Zahl der Cholera- und Typhusinfektionen verringern würde. fnv:{c::Krz2004;;} Dies war auch bitter nötig: 1831 trat die Cholera zuerst in Berlin auf, ab 1840 wurden die Epidemien häufiger. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 23} Höhere soziale Schichten waren nicht vor Infektion und Tod gefeit - u. a. Hegel starb daran -, somit herrschte auch hier oft Angst und Schrecken. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 31}
Dass nun die Kanalisation die Cholera- und Typhusinfektionen hat zurückgehen lassen, scheint so offensichtlich, dass der Mangel an klaren Belegen überrascht. Wie der unten stehenden Figur zu entnehmen, begann die Anzahl an Typhustoten pro 1000 Einwohner zwar 1872 zu fallen - allerdings zwei Jahre vor Beginn des Baus der Kanalisation 1873, und lange vor dem Anschluss relevanter Mengen von Haushalten an diese. fnv:{c::Tepasse2001;; S. 108} Die Abnahme an Typhustoten lässt sich auch anders erklären: Möglicherweise lässt sich der Grund für den Rückgang an Typhustoten auf ein verbessertes Hygienebewusstsein, fnv:{c::Krz2004;;} wahrscheinlicher aber auf das 1854 gebaute Wasserwerk zurückführen: Während 1871 noch keine Kanalisation existierte, waren schon 36,5 % der Grundstücke mit fließendem Wasser versorgt. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 66} Alldem zum Trotz kann es aus heutigem Wissensstand kaum möglich sein, dass die Kanalisation die Menge an infektiösen Krankheiten nicht verringerte.

fig:{ :center:100%:typhus_kana.png}

Zumindest die Akteure selbst glaubten, dass die Kanalisation ihren Teil geleistet hatte: 1883 und 1884 veranstalteten sie 'Hygiene-Ausstellungen', um die Erfolge der Kanalisation zu beleuchten. fnv:{c::Tepasse2001;; S. 104ff}

Der Mangel an Erwartungen

Mehr als alles andere sticht allerdings der Mangel an Erwartungen und der Mangel an Eindrücken über die Auswirkung der Kanalisation heraus. Die Kanalisation war ein Mammutprojekt, welches während seiner 17-jährigen Hauptbauzeit durchschnittlich 1/3 der Staatskasse verschlang fnv:{c::Krz2004;;} - kaum vorstellbar, dass sie die Bewohner Berlins kalt ließ. Bei einem Projekt, dass massive Mengen an Staatsgeldern für das Wohl der Bevölkerung ausgab, würde man im Vorfeld der Konstruktion einen gewissen Druck der Bevölkerung vermuten, der schließlich zum Bau geführt hätte - doch davon keine Spur. Dies mag an der Sekundärliteratur liegen, die für diese Ausarbeitung herangezogen wurde - doch es gibt auch andere mögliche Erklärungsmuster.

Erstens scheinen die Entscheidungsprozesse der Berliner Stadtverwaltung mehr Reaktionen auf momentane Gegebenheiten darzustellen als einem konkreten Entscheidungsmuster zu folgen. Wie zuvor angerissen, sah sich die Stadtverwaltung bis 1847 kaum in der Verantwortung für die Stadtreinigung - möglich, dass die Bevölkerung daher ebenfalls kaum Erwartungen an die Stadtverwaltung hegte. Die Reinigung der Gehwege war die Verantwortung der Hauseigentümer; der preußische Staat und nicht die Stadt Berlin war Eigentümer der Straßen fnv:{c::Mohajeri2005;; S.44} - warum also ein großes Infrastrukturprojekt anfangen? Das Wasserwerk wurde per königliches Dekret etabliert, an der Stadtverwaltung vorbei. fnv:{c::Mohajeri2005;; S.46ff} Als die Stadtverwaltung dann in den 1850ern und 1860ern langsam Kommissionen einsetzte, waren diese ebenfalls Stadtverwaltungsinterne und nicht-öffentliche fn:{Zumindest nicht explizit öffentliche, wie ein Parlament es beispielsweise ist. Ob sie theoretisch öffentlich gewesen wären, erwähnt die Literatur nicht} Kommissionen, um ein akutes Problem zu beheben. fnv:{c::Mohajeri2005;; S.76ff} Möglicherweise wurde die Wasserver- und Abwasserentsorgung noch nicht als städtische Verantwortung gesehen, oder die Öffentlichkeit war nicht wichtig genug, um in diesen Diskurs eingebunden zu werden. Möglicherweise mangelte es auch am Bewusstsein von Alternativen zu einer dreckigen Stadt - trotz allem war Berlin einer der ersten Städte, die eine Kanalisation bauten, somit war die Stadtverwaltung unter Umständen möglichen Erwartungshaltungen voraus. fn:{Es ist schwer, eine komplette Liste aller Kanalisationen zu finden, im Gebiet scheinen es vor allem Hamburg und Frankfurt gewesen sein, die Berlin in dieser Hinsicht voraus waren, in anderen Ländern gab es auch eine Handvoll Städte mit Kanalisation. Vgl. c::Metcalf1914;;, u. a. S. 2, c::Beare1901;;} Nach dem Bau der Berliner Kanalisation war diese dann eine Erfolgsgeschichte: Nachahmer in vielen Städten, fnv:{c::Krz2004;;} wenige Beschwerden, seitdem kaum Änderungen fnv:{c::Tepasse2001;; S. 88} - da blieb kaum Raum, über Enttäuschungen oder Hoffnungen zu sprechen.

Allerdings gab es doch auch abweichende Meinungen: Vor dem Bau der Kanalisation entbrannte eine Diskussion zwischen Anhängern der Kanalisation und Anhängern eines Tonnensystems. Landwirte fürchteten den Verlust der Fäkalien als Düngemittel und kämpften darum, die Fäkalien in Tonnen zu sammeln und dann abzutransportieren. Falls man dies nicht täte, würde das Land kulturell verfallen. Hausbesitzer fürchteten die hohen Kosten einer Kanalisation und präferierten ebenfalls das Tonnensystem. Zu diesem Zweck wurde sogar der Minister für Landwirtschaft eingeschaltet. fnv:{c::Mohajeri2005;; S. 77f} Diese Kritik war auch 1877 noch nicht verstummt. fnv:{c::Ochwadt1877;;} Sorgen um Kanalisationsgase, also Miasmen, die durch die Kanalisation in die Wohnung strömen könnten, stellen einen einsamen Kritikpunkt dar, der erst durch die Kanalisation zu entstehen scheint, also eine genuine subjektive Verschlechterung. fnv:{c::Tepasse2001;; S. 120f}
Die Tatsache, dass kritische Stimmen nach dem Bau der Kanalisation größtenteils verstummen, mag für den Erfolg der Kanalisation oder das Abfinden mit einem Fait accompli sprechen - wenn sie denn verstummen.

Fazit

Die vorherigen Punkte betrachtend ließe sich vorsichtig Schlussfolgern, dass es eine größtenteils implizite, aber dennoch starke Erwartung gab, dass die Stadt nach Bau der Kanalisation einfach sauberer sein würde, eine Erwartung, die so sehr erfüllt wurde, dass sie uns selbstverständlich erscheint. Allgemein wurde angenommen, dass die Gesundheit sich verbessern würde, wahrscheinlich trat dies auch ein, obwohl wir dafür keine konkrete Belege haben. Uns fehlen ebenfalls Anzeichen eines groß angelegten öffentlichen Diskurses und damit einhergehend ein Querschnitt der Erwartungen - möglicherweise aufgrund einer Eigendynamik der Entscheidungsprozesse. Kleinere, auf bestimmte Klientel beschränkte kritische Diskurse gab es allerdings dennoch.
Die Reichweite und Aussagekraft dieser Schlussfolgerungen ist allerdings begrenzt. Die Sekundärliteratur zu diesem Thema begnügt sich im Allgemeinen mit einer chronologischen Auflistung der Ereignisse ohne tief greifende Analyse der darunter liegenden Motivationen, Diskurse und Dynamiken. Eine Korpus- oder Diskursanalyse von wissenschaftlichen Publikationen, Sitzungsprotokollen, oder Zeitungsartikeln wäre hier geeignet, neue Erkenntnisse zu liefern und möglicherweise vielen der hier präsentierten Konklusionen zu widersprechen. Um die gesundheitlichen Auswirkungen der Kanalisation genauer zu betrachten, wäre eine Analyse, die mehr verschiedene Gesundheitsdaten auf solider statistischer Basis analysiert, ebenfalls wünschenswert. An den Quellen selbst sollte es nicht mangeln, da Mitte des 19. Jahrhunderts der Zeitungen, Journale, und Protokolle vergleichsweise verbreitet sind. Um die Berliner Kanalisation und damit auch die Berliner Öffentlichkeit Mitte des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen, fehlt es also vor allem an Archivarbeit.